Die Erkenntnis, dass sich Menschen nicht immer rational verhalten, ist weit verbreitet. 1955 stellte Herbert Simon sein «Behavioral Model of Rational Choice» vor, in dem er das Bild des «Economic Man» infrage stellt. Knapp 20 Jahre später verhalfen Tversky und Kahneman mit „Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases“ der Thematik zu mehr Bekanntheit, Wohl nicht zuletzt dank anschaulichen Beispielen, mit welchen jede*r seine/ihre Irrationalität im Stillen überprüfen und erleben konnte. Der grosse Schritt in die Praxis und die strategische Anwendung von Behavioral Insights (BI) erreichten Thaler und Sunstein 2008 mit dem Buch «Nudge». Sie zeigten, wie der libertäre Paternalismus wohlwollend und problemlösend eingesetzt werden kann, oder besser gesagt «könnte». Denn, auch 75 Jahre nach «Bounded Rationality» und 12 Jahre nach «Nudge», sind BI in der DACH-Region kein allgemein bekanntes und weit verbreitetes Tool.
Aber was sind die möglichen Gründe, dass das Potenzial der BI in der DACH-Region bisher nicht ausgeschöpft wurde? Wir haben führende Verhaltensökonom*Innen gefragt. Heute: Prof. Dr. Christian Fichter.
Christian Fichter ist Sozial- und Wirtschaftspsychologe, Forschungsleiter der Kalaidos FH und Leiter des Instituts für Wirtschaftspsychologie
Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass Behavioral Insights in der DACH-Region im Vergleich zu anderen Ländern (wie etwa GB) eher unbekannt sind?
Na daran, dass alles Gute aus Amerika kommt und erst mit ein paar Jahren Verspätung den Weg zu uns findet 😉. Klingt ironisch, aber ich meine das schon so. Während nämlich Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Ökonomie und Psychologie Vorreiter war, hat sich der Brennpunkt der verhaltenswissenschaftlichen Forschung mit dem zweiten Weltkrieg an amerikanische Spitzenunis verlagert. Das ist wissenschaftshistorisch gut dokumentiert. Dazu kommt, dass insbesondere die deutschsprachigen Kulturen gegenüber Beeinflussungen ihres Verhaltens ein, sagen wir mal, reserviertes Verhältnis haben. Ich schwanke, ob ich das als pathologische Angst vor Autonomieverlust auffassen soll, oder als gesunden Wunsch nach demokratisch-staatsbürgerlicher Selbstbestimmung. Und dann spielt auch eine Rolle, dass ausgerechnet die deutschsprachige Psychologie – also die Profession, die ursprünglich für das menschliche Verhalten und Erleben zuständig war – im Zuge der 68er-Jahre eine tiefe Abneigung gegen alles Wirtschaftliche entwickelt hat. Was dumm und bedauerlich ist, denn immerhin wurde die Wirtschaftspsychologie ja zu Beginn des 20 Jh. vom Deutschen Hugo Münsterberg begründet. Aber es sind eben solche historischen Zufälle, die manchmal ganze Bewegungen auslösen – oder verhindern. Ein solcher Zufall ist natürlich, dass in einigen angelsächsischen Ländern die richtigen Leute zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren und «Nudge Units» ins Leben gerufen haben, also Stabsstellen, die z. B. Regierungen beraten haben. Mit beachtlichem Erfolg.
Was müsste Ihrer Ansicht nach getan werden, um Behavioral Insights in der DACH-Region als weitläufig bekanntes und akzeptiertes Tool in der Praxis zu verankern?
Nun, der Erfolg der Nudge Units ist uns hier ja nicht verborgen geblieben, deshalb ist die Nutzung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse auch bei uns stark im Trend. An unserer Hochschule beobachte ich z. B. eine in den letzten Jahren stark angestiegene Nachfrage nach Studiengängen mit Vertiefung in Wirtschaftspsychologie oder Verhaltensökonomie. Für die DACH-Region ist es einfach doppelt wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger sich nicht in ihrer Entscheidungssouveränität bedroht fühlen. Vielleicht passt Nudging auch weniger zu unserer Mentalität als Boosting, also das Befähigen und Aufklären, anstatt das Stupsen. Wichtig ist auch, dass unsere Führungskräfte in Staat und Wirtschaft verstehen, wie wichtig es ist, gerade im zukünftigen globalen Wettbewerb nicht nur über Wertschöpfungsketten und Finanzierungen Bescheid zu wissen, sondern über die eigentlichen Subjekte, um die es dabei geht: die Menschen. Von daher ist es ermutigend, dass immer mehr Führungskräfte psychologische Weiterbildungen besuchen.
Wo sehen Sie Behavioral Insights in der DACH-Region in 5 Jahren?
Ich glaube, der Trend geht steil nach oben, und daran wird sich so bald nichts ändern. Was auch kein Wunder ist, denn Globalisierung, Digitalisierung und Wertewandel ebenso wie die Verschiebung der weltweiten politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse bewirken, dass die DACH-Länder nur noch mit psychologischem und verhaltensökonomischem Wissen Vorteile im Wettbewerb haben können. Und damit meine ich nicht nur den wirtschaftlichen Wettbewerb, sondern auch den Wettbewerb darum, wer die erstrebenswertesten Lebensbedingungen schafft und erhält.
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